Mit dem ICE in die Totalitätszone
 

Von Gottfried Wiesner († 28.10.2015)

Wie die meisten Mitglieder AAG Heuchelheim wollte auch ich die "letzte totale Sonnenfinsternis des Jahrtausends" nicht versäumen. Bei der Vorbesprechung am 30. Juli erbot sich unser Mitglied Reiner Euler, mir die Erlaubnis zur Teilnahme an der Sonnenfinsternis-Exkursion seines Instituts zu erwirken.

Die Erlaubnis wurde erteilt und so fand ich mich am 11.8. gegen 5:30 Uhr früh auf dem Gießener Bahnhof ein, als vorsichtiger Mensch noch vor den Institutsmitgliedern.

Alle 30 Teilnehmer kamen pünktlich; die Fahrt mit Umsteigen in den ICE im Frankfurter Hauptbahnhof ging glatt vonstatten. Erst hinterher wurde mir klar, wie gut wir es getroffen hatten: Während motorisierte Finsternis-Touristen schon ab dem Gambacher Kreuz in irgendwelchen Staus steckten, saßen wir bequem auf reservierten Plätzen und rasten mit maximal 200 km/h unserem Ziel entgegen - und das zum Schnäppchen-Preis von 52;- DM!

In Baden-Baden hieß es aus- und umsteigen: Ein Linienbus brachte uns in die Innenstadt zum Leopoldsplatz, wo wir dreiviertel Stunden Zeit hatten bis zur Fahrgelegenheit nach Ebersteinburg. Man konnte sich daher noch einen Kaffee genehmigen; die Cafés rundum waren um 9 Uhr bereits geöffnet. Offenbar warf die Sonnenfinsternis ihre Schatten voraus, wenn auch keine fliegenden. Man hatte sich offenbar auf starken Touristenverkehr eingerichtet.

Der Bus mit seiner zusätzlichen Last von 30 Fahrgästen aus Mittelhessen bezwang die Serpentinenstraße zu den Vorhöhen des Schwarzwalds nur mit Mühe, er schaffte es aber. Wir stiegen in der Ortsmitte von Ebersteinburg aus und begaben uns unter der kundigen Führung der Organisatoren (R. Euler und J. Gräf) zum Beobachtungsplatz.

Dies war ein Wiesenhang nordwestlich der Ruine Ebersteinburg mit freiem Blick nach Westen in die Rheinebene.

Schon eine Stunde vor dem Beginn der partiellen Finsternisphase wimmelte es von Schaulustigen. Einige Besucher hatten Zelte aufgeschlagen und die Nacht darin verbracht. Der Rand der Straße nach Gaggenau im Murgtal war lückenlos von parkenden Autos gesäumt; Instrumente standen bereit. Wir schätzten, daß sich auf dem halben Quadratkilometer, den wir überblicken konnten, mehrere tausend Menschen aufhielten.

Der Himmel war bewölkt, die Chance einer Beobachtung der total verfinsterten Sonne schienen äußerst gering. Trotzdem überwog eine Stimmung gespannter Erwartung. Die Möglichkeit, daß im entscheidenden Augenblick gar nichts zu sehen sein könnte, wurde verdrängt. Schließlich gab es hier und da Wolkenlücken, die mitgebrachten Filter benutzte man jetzt schon ab und zu. Die Zeiten, wo man glaubte, zwei aufeinandergelegte, geschwärzte Filmenden böten genügend Schutz sind lange vorbei.

Um 11:12 machten Fernrohrbesitzer darauf aufmerksam, daß es "losgehe": Der Mond begann sich von Westen her vor das Tagesgestirn zu schieben. Gleich darauf wurde für kurze Zeit das Stimmengewirr lauter, als auch mit bloßem Auge zu erkennen war, daß der "Drache" Mond angefangen hatte, die Sonne "anzuknabbern". In knapp 80 Minuten würde sie ganz in seinem Rachen verschwunden sein.

Immer wieder brach das Sonnenlicht durch, die Filterbrille setzte ich laufend auf und wieder ab. Nur wenn die ständig mehr vom Mond bedeckte Sonne durch die Wolkenschleier schien, konnte ich auf sie verzichten.

Eine Abnahme der Tageshelligkeit meinte ich erst wahrzunehmen, als nur noch eine Sichel von weniger als ¼ Sonnendurchmesser größter Breite unbedeckt war. Die Wolkendecke bekam mehr und mehr Lücken, durch die der blaue Himmel hindurchschien; die Hoffnung, etwas vom Verfinsterungsgeschehen wahrnehmen zu können, schien nicht so unrealistisch wie noch kurz vor dem ersten Kontakt.

Bevor uns der Kernschatten erreichte, nahm die im Rest-Sonnenschein liegende Umgebung ein Aussehen an, wie wenn man sie im vollen Sonnenlicht durch ein dunkles, vielleicht etwas grünlich getöntes Glas betrachten würde.

Und nun rast aus Westen etwas Schwarzes auf uns zu; schwärzer als die dunkelste Gewitterfront: der Kernschatten !

Am Horizont bleibt zwar ein heller rötlicher Saum sichtbar, aber dies nimmt dem Geschehen nichts von seiner Unheimlichkeit.

55 Grad überm Horizont steht die schwarze Scheibe, umgeben von der weißschimmernden Korona. Am rechten oberen Rand kann man ein paar rötliche Flecken ausmachen, es sind Protuberanzen.

Links unterhalb der Sonne strahlt in ungewohnter Helligkeit Venus durch leichtes Schleiergewölk. Nach Merkur und Regulus, den die Sonne in einigen Tagen passieren wird, schauen wir allerdings vergeblich aus.

Auch Sirius, im Südwesten sich dem Untergang zuneigend, wird nicht erblickt. In einem Ort in der Rheinebene hat sich anscheinend automatisch die Straßenbeleuchtung eingeschaltet.

Nur zu schnell vergeht die 130 Sekunden lange Nacht, der erste Sonnenstrahl bricht auf der Westseite des Mondes hervor. Trotz aller Faszination durch das nie Geschaute, den wundersamen Einbruch eines Geschehens im Weltraum-Maßstab in unsere kleine Alltagswelt - ein Gefühl der Erleichterung fehlt nicht ganz: Schön, einzigartig schön war es - daneben aber doch ein bißchen bedrohlich. Die Stimmung hatte durchaus etwas Weltuntergangmäßiges, man konnte die abergläubische Furcht der Menschen früherer Zeiten nachempfinden und - haben wir es heute wirklich "so herrlich weit gebracht"?

Es vollzogen sich in den nächsten 80 Minuten die Vorgänge der ersten partiellen Phase in umgekehrter Reihenfolge, aber das Interesse am Beobachten ließ doch etwas nach, man dachte allerseits an Aufbruch.

Unsere Heimreise verlief nicht so glatt wie die Hinfahrt. Der Bus zum Bahnhof quälte sich im Schrittempo durch die von motorisierten Finsternistouristen verstopfte Innenstadt von Baden-Baden. Die Folge dieser Verzögerung war, daß der schöne Interregio-Zug, der uns um 19:03 in Gießen abgesetzt hätte, längst weg war, als wir am Bahnhof eintrafen. Ein Lob gebührt den Organisatoren der Exkursion für gelungene "Schadensbegrenzung": Zwar mußten wir dreimal den Zug wechseln, beim Umsteigen in Karlsruhe die Beine in die Hand nehmen und uns streckenweise mit Stehplätzen begnügen, aber wir kamen mit nur einer Stunde Verspätung in Gießen an.

© 10. 11. 2001  by Josef Gräf,   Mit dem ICE in die Totalitätszone